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Jedem sein Trauma: Medikalisierung der Gesellschaft statt Selbsthilfe

Referat von Rolf P. Steinegger an den 9. Freiburger Sozialrechtstagen, 06./07.09.2012, Universität Freiburg.

Ein Problem unserer Gesellschaft ist es, dass nicht objektivierbare gesundheitliche Einschränkungen als Invaliditätsgrund etabliert werden – Einschränkungen, die in der überwiegenden Zahl der Fälle keine wesentliche Behinderung der Arbeits­fähigkeit mit sich bringen oder gar nicht existieren (Medikalisierung). Dadurch werden die Betroffenen in ihrem persönlichen und wirtschaftlichen Fortkommen beeinträchtigt, und der Gesellschaft fallen hohe, vermeidbare Kosten an. Die Medikalisierung ist primär eine Sache der Rechtsprechung und ihrer Beweiswür­digung. Da die Beweiswürdigung gleichsam eine Sache des Bauches ist, erweist sie sich in vielen Fällen als kaum nachvollziehbar. Sachfremde Motive, Denkfehler und mangelhafte medizinische Gutachten können die richterliche Urteilsfindung beeinflussen. Sie spiegelt in vielen Fällen die gesellschaftliche Entwicklung wider, die heute alles, was mit Leiden einhergeht, als pathologisch ansieht (pathogene Gesellschaft). Den Leuten wird heute systematisch ausgetrieben, dass sie über enorme Selbsthilfekräfte verfügen, namentlich im Bereich psychischer Krankheiten. Als unglücklich erweist sich der Gesundheitsbegriff der WHO. Er leistet einer «life-style-Medizin» Vorschub. Die Gefahr wächst, dass aus Gesunden Kranke gemacht werden.

Grundfrage an unsere Gesellschaft und unsere Rechtsprechung ist es, ob die Entwicklung zu unterstützen sei, jedes Wehwechen zu pathologisieren und zu medikalisieren oder den Trauma-Begriff weiter zu überdehnen (Wer will, bekommt seine Diagnose. Auch die Fröhlichen, die nur noch nicht wissen, wie himmeltraurig es ihnen in Wahrheit geht.) – mit Kosten in Milliardenhöhe.

Rolf P. Steinegger
Freiburger Sozialrechtstage 2012
Jedem sein Trauma mTJI (mild Traumatic Justice Injury): Medikalisierung statt Resilienz?
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